GAG-Mieterin Anneliese Diederich schaut aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Germaniasiedlung in Höhenberg
Foto: Costa Belibasakis

Erinnerungen einer früheren Trümmerfrau

In dieser Rubrik nehmen wir Sie mit auf Zeitreise und erzählen die Geschichten unserer langjährigen Mieterinnen und Mieter. Diesmal haben wir Anneliese Diederich in ihrer Wohnung in der Germaniasiedlung in Höhenberg getroffen.

Anneliese Diederich erinnert sich noch ganz genau daran, wann es in ihrer Kindheit Zeit für den Heimweg war. Damals waren in Köln nämlich noch Laternenanzünder unterwegs: „Meine Mutter hat immer gesagt: ‚Wenn der Herr Schlangen kommt, dann gehst du nach Hause!‘ Der ging dann mit einem Leiterchen durch die Straßen und zündete die Gaslaternen an.“

Es waren die 1930er Jahre. Die dramatischen politischen Entwicklungen dieser Zeit gingen an Anneliese Diederich, geboren 1928, in den ersten Jahren ihrer Kindheit noch vorbei. Andere Dinge waren viel spannender: „Wenn einer ein Motorrad gehabt hat, dann haben wir alle gestaunt! Das war etwas Besonderes. Das hatte nicht mal der Doktor, der hatte ja ein Auto.“

Sie wuchs auf in der Humboldt-Siedlung, dem heutigen Humboldt/Gremberg. Zu den dortigen Motorenwerken Klöckner-Humboldt-Deutz hatte die Familie einen direkten Bezug: „Mein Großvater war dort Werkmeister“, erzählt sie. Erst lebten die Diederichs in der Wetzlarer Straße, später folgte der Umzug in die Esserstraße im gleichen Stadtteil.

Nachmittags, gelegentlich auch bei Schulaufführungen, spielte Anneliese auf der Flöte. Ihre freie Zeit verbrachte sie mit den Kindern aus der Nachbarschaft. „Wir spielten Sachen, die es heute nicht mehr gibt“, sagt sie. „Glanzbilder tauschen und Ömmer!“ Ömmer, klärt sie auf, ist ein kölscher Ausdruck für Murmelspiele, die unter Kindern damals sehr beliebt waren. Die Straßen und Wege waren noch nicht gepflastert und man fand leicht eine geeignete Strecke, auf der man die prächtigen Glaskugeln rollen lassen konnte.

Flucht nach Berlin und Heimkehr in die Domstadt

Noch immer weiß die 93-Jährige den vollen Namen ihrer damals besten Freundin: „Ingeborg Teutenberg!“  Gesehen hat sie sie zuletzt vor 80 Jahren, denn mit einem Mal war die glückliche Kindheit vorbei: 1941 ging Mutter Diederich mit der kleinen Anneliese um die Weihnachtszeit nach Berlin. Dort konnten die beiden bei einem Bruder des Vaters unterkommen, nachdem der Vater selbst als Soldat eingezogen worden war. In der Hauptstadt blieben Mutter und Tochter zwei Jahre lang. Als die Bombenangriffe stärker wurden, wurde es auch dort zu gefährlich.

Neue Zufluchtsorte fanden sie in Mitteldeutschland, „wo die schönen Gegenden von Deutschland zusammenlaufen“, schildert Anneliese Diederich: Göttingen, Höxter und Ebergötzen waren Orte, in denen sie jeweils eine Zeit verbrachte. Sie lernte in der Hauswirtschaft eines Hofes. „Und dann kam das große Datum, der 8. Mai 1945. Man sagte zu uns: Macht die Fenster zu oder hängt eine weiße Fahne raus! Dann rollten amerikanische Panzer heran. Die Soldaten darauf hatten die Maschinengewehre im Anschlag. Im Hof fanden sie eine Truhe, die sie aufschlitzen, weil sie dachten, es wäre Munition darin. Aber es war nur Kleidung.“

Nach dem Kriegsende ging es zurück in die Domstadt. Im Dezember 1947, sechs Jahre nach der Flucht nach Berlin, bezog sie mit ihren Eltern eine GAG-Wohnung in der Olpener Straße 200. Dass sie an dieser Adresse 72 Jahre bleiben würde, ahnte die junge Frau damals noch nicht. Wer dachte schon so weit in die Zukunft? „Bei unserem Einzug war noch vieles zerbombt. Menschen lebten in ihren Kellern, über ihnen Schutt und Asche der zerstörten Häuser. Andere wohnten in Wellblechbuden. Verstorbene wurden im Zuckersack beerdigt!“, berichtet die Zeitzeugin.

„Fringsen“, Trümmer klopfen und Unkraut kochen

Wer konnte, wurde zum Wiederaufbau abkommandiert. Auch die junge Anneliese wurde zur Trümmerfrau. „Auf dem Trümmerberg stehend, wurden die Steine der zerstörten Häuser in Eimer gefüllt. Dann gab man die Eimer von Hand zu Hand weiter bis unten auf die Straße. Dort stand die Lore, die kleine Eisenbahn mit Lokomotive, welche die Steine bis zu den Abladestellen beförderte“, erinnert sie: „Die Lore gehörte jahrelang zum Stadtbild von Köln.“ Nicht nur körperlich war die Arbeit der Trümmerfrauen hart, verraten ihre Schilderungen: „Wenn man dort steht, denkt man: Das ist ein Stück von uns! Zu wessen Haus gehörte dieser Stein? Wo ist derjenige?“

Enttäuschungen gehörten zum Alltag in dieser Atmosphäre, in der jedem alles fehlte und jeder alles brauchen konnte. So wurde vom Balkon der Familie Diederich, die im Hochparterre lebte, auch eine Birkenholz-Platte geklaut, die Annelieses Vater aus Russland mitgebracht hatte, und auf der geschrieben stand: „Meinem Mädel zum 14. Geburtstag.“ Schöner sind da die Erinnerungen an die Seligmachungen des Schwarzmarktes, beschreibt unsere Mieterin: „Ich habe immer darauf gewartet, dass die Oma sagte: ‚Hol ein Lot Kaffee!‘ Das reichte für ein, zwei Tassen. Ich wusste, ich bekomme auch einen Schluck ab. Damals merkte ich: Kaffee ist lecker – und belebt, wenn man hungrig ist!“

Die Not, Hunger und Lebensmittelmarken prägten den Alltag der Nachkriegsjahre: „Wenn man beim Bäcker ein Brot kaufte, konnte es vorkommen, dass Borsten darin waren. Dann wusste man: Der Bäcker hatte dafür die letzten Reste Mehl zusammengefegt.“ Im Herbst sammelte sie mit ihrer Mutter Bucheckern im Königsforst. Fünf Pfund der kleinen Nüsse konnte man bei den amerikanischen Besatzern gegen zwei Pfund Margarine eintauschen. Statt Gemüse gab es Raps und Trümmermelde, ein Unkraut.

Auch beim legendären „Fringsen“ war sie dabei: „Wenn die Züge, beladen mit Briketts, in den Kalker Bahnhof einfuhren, warteten wir auf den Moment, wo sie stillstanden. Dann kletterten wir auf die Waggons und warfen in Eile Briketts herunter. Andere, die schon warteten, sammelten sie in Säcke ein. Wir sprangen schnell wieder vom Zug, der dann weiterfuhr.“ Einmal erlebte sie auch, wie der Vater von zwei Freunden aus dem evangelischen Jugendkreis auf diese Weise verunfallte und ums Leben kam: „Das war bitter und schlimm!“

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Langsam ging es aufwärts

Bis heute findet sie es erstaunlich, wie sich mit der Währungsreform die Lage über Nacht wandelte: „Sobald das Kopfgeld kam, waren auch die Regale wieder voll. Die müssen doch die Waren zurückgehalten haben!“ Für sie selbst war eine Tafel Schokolade der erste Kauf. Langsam ging es aufwärts – für die Stadt, und auch für Anneliese Diederich. Sie fand eine feste Stelle bei der RheinEnergie, die damals noch GEW hieß – Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke AG. Dort stieg sie über die Jahre nicht nur in eine leitende Position auf, sondern lernte auch den Mann kennen, der seit vielen Jahrzehnten ihr Partner ist.

Heiraten oder gar zusammenziehen, das wäre für sie jedoch nicht in Frage gekommen. Unverblümt erklärte sie das auch ihrem Chef, als dieser sie einmal darauf ansprach, warum sie nicht mit ihrem Partner eine gemeinsame Wohnung bezog: „Wir haben nie gelernt, zusammen zu leben, wir haben nie gelernt, zusammen zu wohnen. Wenn wir das tun, geht es am Ende noch schief! Aber so ist uns der Faden nie verloren gegangen“, sagt sie nicht ohne Stolz.

Schmunzelnd erzählt sie von einer Begegnung aus der jüngeren Vergangenheit, als sie mit ihrem Lebensgefährten unterwegs war, den sie „Papa“ nennt. „Ein Mann wollte wissen: ‚Wie alt ist denn der Papa?‘ Ich habe gesagt: ‚Sieben Jahre jünger als ich!‘ Aber das ist eben so, in unserer Generation nennen sich viele Paare Papa und Mama.“ Schließlich hat sie seine Kinder seit den 60er Jahren mit aufwachsen sehen. Eng verbunden war sie auch ihrer Freundin Brigitte Odenthal: „Wir waren 65 lange Jahre ziemlich gute Freunde, bis sie 2014 verstarb. Auch ihre Kinder sah ich heranwachsen.“

Auch in ihrem Wohnhaus an der Olpener Straße sah sie viele Kinder kommen und gehen, denn bei 16 Mietparteien gab es immer wieder Wechsel. „Wir waren fünf verschiedene Nationen: Deutsche, Türken, Marokkaner, Iraner, Nigerianer“, berichtet sie: „Rassenhass kann ich nicht vertragen!“ Auch beim Reisen mochte sie das Internationale und hat mit ihrem Partner zahlreiche Fernreisen unternommen. Erinnerungsstücke aus fernen Ländern sind liebevoll im Bücherregal des lichtdurchfluteten Wohnzimmers arrangiert.

Umzug in die Germaniasiedlung

Mit 91 Jahren musste Anneliese Diederich sich dann doch noch einmal mit einem Umzug anfreunden: Das Haus an der Olpener Straße 200 wurde kernsaniert, den Mietern daher Wohnungen in unseren anderen Quartieren vermittelt. Die Seniorin entschied sich für die Germaniasiedlung. Die war ihr nämlich schon Jahrzehnte vorher beim Spazierengehen aufgefallen. Entstanden ist die Germaniasiedlung in den 1920er Jahren. Wie für diese Zeit typisch, verbindet sie pragmatische Raumgestaltung mit individueller Wohnlichkeit. „Die Häuser haben hier die gleiche Formation und sind doch nicht kasernenartig – das ist etwas Besonderes“, kommentiert Anneliese Diederichs den charakteristischen Stil.

Auch das grüne Flair der baumreichen Siedlung macht ihr Freude: „Es ist einfach freundlich hier! Aus meiner alten Wohnung heraus habe ich 72 Jahre lang nur gegen eine Mauer geguckt.“ Ein bisschen wehmütig war sie trotzdem, als sie die Olpener Straße nach über sieben Jahrzehnten verließ. Doch sie dachte sich kurzerhand eine kreative Lösung aus: Sie schrieb ein Abschiedsgedicht für die Räume und ließ es dort zurück. Nun ist der Blick nach vorne frei: „Für meine neue Heimat bin ich dankbar!“, sagt sie.

Text: Johanna Tüntsch