Leben und Wohnen im Kölner Veedel Nippes
Foto: Thilo Schmülgen

Nippes. Idyll mit kleinen Fehlern

In dieser Rubrik betrachten wir das Leben und Wohnen in Köln. Rund 33.000 Menschen finden links und rechts der lärmenden, von Bausünden der Nachkriegszeit geprägten Neusser Straße Platz und Inspiration zum Leben, Lieben und Arbeiten. Wir haben einige Nippeser gebeten, ihr Lebensgefühl zu beschreiben.

Pfarrer Thomas Diederichs

„Das geht, wenn man lernt, sich zu organisieren ...” 

Der Pfarrer von Nippes ist verheiratet, hat drei Kinder und lange Haare. Geht nicht? Klar geht das! Denn der Pfarrer von Nippes ist evangelisch. 2002 hat Thomas Diederichs die Lutherkirche als Kulturkirche neu erfunden. Und seit dort außer Pastoren auch Stars wie Martin Suter, Sinead O’Connor, Heather Nova oder Boy auftreten, ist Thomas Diederichs selbst ein Star, in Nippes zumindest. Wenn er auf dem Fahrrad durchs Veedel saust, winken ihm die Passanten nach, die evangelischen genauso wie die katholischen, die muslimischen und konfessionslosen.

Gibt es noch Momente, in denen er nicht erkannt wird? „Fast gar nicht”, sagt er. Über zurzeit 5.500 Schäfchen, Tendenz steigend, wacht Diederichs gemeinsam mit seiner jungen Kollegin Miriam Haseleu. „Das geht, wenn man lernt, sich zu organisieren. Und auch mal was sein lässt.“ Die „Nippesnacht“ zum Beispiel, die allherbstlich die Kneipen mit Livemusik füllt.

Wirt William Blask

„Von einem Laden allein kann man nicht leben”

William Blask (48), mit dem Diederichs das Festival 2001 aus der Taufe hob, schmeißt den Laden jetzt alleine. Es ist nicht sein einziger. Zurzeit betreibt er den Kellerclub, „Heimathirsch“, ist Veranstaltungsleiter im „Nachtschwärmer” und Mädchen für alles Mögliche im „Club Berlin“ in Ehrenfeld. „Von einem Laden allein kann man nicht leben”, sagt er.

Der Pfarrer und der Wirt sind seit rund einem Vierteljahrhundert Nippeser. Diederichs erinnert sich an ein „Arbeiterviertel mit ein paar Studenten hier und da, geprägt vor allem von den Angestellten der Clouth-Werke, der Bahn und der Post. Die sind alle weg.“ Seine Kinder wuchsen mit Erin und Serdar auf, der Migrantenanteil lag damals bei mehr als 40 Prozent. „Heute sind es deutlich weniger.” Blask fand damals ein „verschlafenes Viertel“ vor, das allerdings mit Läden wie dem „Feez“ (heute „Gasthaus im Viertel“), „Kantine“ (verzogen an die Neusser Landstraße) und „Lehrer Lämpel“ (geschlossen) zumindest einem alternativen Publikum Gelegenheit bot, gepflegt abzustürzen. Später kamen die Uni-Absolventen aus Ehrenfeld: „Zum Kinderkriegen.“

Komiker Johann König

,,... aber die Menschen sind super”

Einer von ihnen war der Comedian Johann König, als „depressive Stimmungskanone” deutschlandweit bekannt. „Wir haben damit anscheinend einen echten Trend gesetzt”, sagt der mittlerweile dreifache Familienvater. „Als wir Anfang 2006 her zogen, war Nippes überhaupt nicht hip. Aber es hat es sich wunderbar entwickelt.” Ein paar mehr schöne Plätze im Stile des Schillplatzes, die Neusser Straße verkehrsberuhigt – viel mehr fehlt nicht zum vollkommenen Nippes-Glück.

So sehr ist dem gebürtigen Soester die „Kleinstadt in der Großstadt” ans Herz gewachsen, dass er Nippes zum Teil seiner Kunst macht: in seinem YouTube-Kanal „Der Nippes-Foto-Film“ und „Nippes 2“, in seinem Stadtguerilla-Projekt „baumtiere.de“ und in seinem 2016 bei Bastei Lübbe erschienenen Buch „Kinder sind was Wunderbares – Das muss man sich nur IMMER WIEDER sagen“. Darin versammelt König Beobachtungen und Skurriles aus seinem Nippeser Alltag. „Ich zieh hier nicht mehr weg”, lautet sein Fazit nach zehn Jahren im Veedel. „Die Architektur macht einen zwar teilweise depressiv, aber die Menschen sind super.“

William Blask geht es ähnlich. Den Schein einer „urbanen Idylle“ habe sich Nippes bis heute erhalten, findet er. Statt des alternativen Volks zu Beginn der 90er Jahre wohne jetzt eben „hippes, urbanes Volk im sanierten Altbau“ – oder nebenan in der so genannten „Autofreien Siedlung“.

 

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Familie Freyer

,,Man lebt nicht so anonym wie in Alt-Nippes”

Dort, in der Lokomotivstraße, sind die Freyers heimisch geworden. Als Kathrin (40) und Uwe (45) 2008 einzogen, war Tochter Anna (8) gerade ein Jahr alt und von der Kita gegenüber, die sie und ihre Schwester Jule (2) später besuchen sollten, noch keine Spur. „Ich hab ganz viele Freunde hier”, sagt Anna (8) und zählt auf: „Mila, Marie, Frieda, Siri, Greta, Antonia …“ Keine Jungs? „Doch! Karl, David, Henning, Oskar, Enno, Emil …“ Bis heute gefällt den Eltern die offene Struktur der Siedlung, in der sich der Nachwuchs fast so frei bewegen kann wie in einem ewigen Ferienlager: „Man lebt nicht so anonym wie in Alt-Nippes“. Die Sprüche aus eben dieser Richtung („Legebatterie”, „True Man Show“) nehmen sie in Kauf. „Wäre ich alleine, wäre ich auch lieber im Altbau“, sagt Kathrin. „Aber für meine Kinder ist das hier perfekt, und deshalb ist es das auch für mich.“

Eventmanagerin Judith Schmitt

„Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, habe ich sogar Domblick”

Für Judith Schmitt (49) ist Alt-Nippes perfekt, seit 2003 schon. Ihre Kinder sind auf rund 100 m² in der Wilhelmstraße groß geworden. „Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, habe ich sogar Domblick.” Und außerdem alles, was das Leben angenehm macht, in einem Radius von rund 100 Metern: Supermärkte, Metzger, Restaurants und Kneipen, Fressmeile und den Wochenmarkt, der in Nippes außer sonntags täglich öffnet. „Einmalig in Köln.” Dazu eine Tennismannschaft beim ESV Olympia, dem einstigen Eisenbahnerverein, und einen Schrebergarten im Grüngürtel. „Nippes hat mit seinen Parks und Plätzen eine Grundstruktur, die ständige Veränderungen möglich macht”, sagt Judith und freut sich über zahlreiche neue Läden und Gastronomien, die in den letzten Monaten eröffnet haben. „Ich finde Wandel gut. Solange meine Miete nicht steigt.” Und ihr Schrebergarten erhalten bleibt. Die Stadt plant hier am Rande Grüngürtels dringend benötigten Wohnungsneubau, doch Schmitt hofft auf eine einvernehmliche Lösung. „Man könnte die Anlage für Spaziergänger öffnen. Eine Stadt definiert sich schließlich immer auch über ihre Grünflächen.”

Marte Berens und Ilka Buchloh vom „Kaffeekiosk“

„Wo gibt’s hier einen guten Kaffee?”

Oder über Kaffee. Das jedenfalls sagt Marthe Berens, die lange Jahre als Kamerafrau gearbeitet hat. “Egal, wo ich in meinem Leben hingekommen bin, die erste Frage war immer: Wo gibt’s hier einen guten Kaffee?” Seit sie 2013 gemeinsam mit Ilka Buchloh den „Kaffeekiosk“ auf dem Wilhelmplatz eröffnet hat, ist sie es, die in Nippes für einen ordentlich gebrauten Barista zuständig ist. Aber nicht nur das: “Zu uns kommt ein Querschnitt der Nippeser Bevölkerung: von den Muttis mit den Kinderwägen, die anderswo nicht reinpassen, bis zu den Opas mit den Rollatoren. Wir reichen den einen ihren Filterkaffee raus und den anderen ihren Cappucchino, dafür kriegen wir die schönen Geschichten genauso mit wie die traurigen. Das gehört dazu.”

Nebenan gibt es einen türkischen Kaffeewagen. “Der hat anderen Kaffee und andere Kunden”, erklärt Ilka Buchloh. “Als wir neu waren, stand der Besitzer direkt bei uns im Laden. Ihm war völlig klar, dass unser Konzept nicht funktioniert. Er hatte aber auch noch nie was von Latte-Macchiato-Müttern gehört.” Die friedliche Koexistenz der beiden Kaffeestände steht sinnbildlich für das weitgehend selbstverständliche Nebeneinander der Kulturen in Nippes. Jeder macht sein Ding, aber man ist freundlich und man hilft einander, wenn bei einem mal die Kaffeebohnen ausgehen. Mehr Integration muss vielleicht gar nicht sein. Thomas Diederichs, den Pfarrer von Nippes, beobachtet die vielen Neuankömmlinge aus Syrien und anderswo, die sämtliche Hotels im Stadtteil und Behelfsunterkünfte am Festplatz bewohnen, mit Spannung. “Auch das wird uns Nippes verändern. Aber wenn wir bereit sind, uns mit zu entwickeln, werden wir daran wachsen.”

Text: Sebastian Züger